Die meisten europäischen Staaten wehren sich nach der großen Fluchtbewegung von 2015 vehement, weitere Schutzsuchende aufzunehmen. Ein Deal mit der Türkei soll sicherstellen, dass jene, die den Katastrophen in ihren Heimatländern zu entrinnen versuchten, den Festungsmauern der EU fernbleiben. Die Dramen, die sich im Mittelmeer abspielen, kümmern uns wenig. Und die zaghaft aufkommenden Stimmen, man solle doch zumindest einige unbegleitete Kinder aus den hoffnungslos überfüllten Lagern in Griechenland nach Österreich holen, wurden vom Rauschen der Corona-Welle völlig übertönt.
Potenzielle Todesfallen
„1300 Menschen teilen sich in Moria einen einzigen Wasserhahn. Wie soll man da Hygieneempfehlungen befolgen und Abstand halten?“, fragt Bilgin Ayata. Die Politikwissenschafterin, derzeit noch an der Universität Basel tätig, wird ab 1. Oktober die Professur für Südosteuropastudien an der Uni Graz übernehmen. Sie befasst sich mit dem europäischen Migrationsmanagement und kennt die Situation auf den griechischen Inseln im Detail. Über 40.000 Geflüchtete kämpfen dort in desolaten Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen um ihr Überleben. Die Ausbreitung von Covid-19 hat ihre Lage noch einmal verschlimmert.
„Das Virus ist ein Anlass, die Schutzsuchenden von der örtlichen Bevölkerung abzuschirmen – unter dem Deckmantel der Vorsorge“, meint Ayata. Tatsächlich betreiben Griechenland und die EU in ihren Augen schon seit Jahren eine gezielte Politik der Vernachlässigung. Die katastrophalen Zustände in den Hotspots, deren Stacheldrahtzäune an Internierungslager im Zweiten Weltkrieg erinnern, sollen wohl Nachkommende abschrecken. Rechtsstaatliche Verfahren, völkerrechtliche Vereinbarungen und demokratische Grundwerte würden bewusst ausgesetzt, um nicht autorisierte Migration nach Europa zu verhindern.
Unwürdiges Mittel
Ungeachtet der menschenrechtswidrigen Vorgänge hat die Union die Türkei zum sicheren Drittstaat erklärt. Präsident Recep Tayyip Erdogan nützt das Abkommen aus, um Europa unter Druck zu setzen. Er setzte die vier Millionen Geflüchtete in seinem Land als menschliche Munition ein, hetzte den rassistischen Mob gegen sie auf und ließ sie in Bussen zur griechischen Grenze bringen, wo sie wiederum durch Mitglieder der Grenzschutzbehörde FRONTEX mit Tränengas und Gummigeschoßen attackiert wurden und manche sogar zu Tode kamen.
Den Deal betrachtet auch Yvonne Karimi-Schmidt vom Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen äußerst skeptisch: „Einerseits begibt sich die EU damit in eine Abhängigkeit, andererseits hat die Vereinbarung die Lage der Geflüchteten dramatisch verschlechtert“, fasst sie zusammen. Die Schutzsuchenden in der Türkei bekommen kaum staatliche Unterstützung und haben so gut wie keine Zukunftschancen. Dass man nachhaltigen Frieden in ihren Herkunftsländern herstellen kann, scheint ebenso aussichtslos. Neben der Türkei mischen andere internationale Mächte in Syrien mit und versuchen, ihre Interessen durchzubringen.
Auch im Irak ist die Lage weiter angespannt. Seit Oktober letzten Jahres gibt es immer wieder Ausschreitungen und gewalttätige Zusammenstöße in den größeren Städten. „Die Konsequenz waren zahlreiche Verletzte und Todesopfer, vorübergehende Ausgangssperren und die Abschaltung des Internets beziehungsweise die Sperrung sozialer Medien“, berichtet Karimi-Schmidt.
Das Dublin-Dilemma
Bleibt also nur der Weg, in Europa eine Lösung zu finden. Und der wiederum führt in vielen Fällen über Griechenland. Das berühmt-berüchtigte Dubliner Übereinkommen sieht vor, dass jener EU-Staat für ein Bleiberechtsverfahren zuständig ist, in den eine schutzsuchende Person ohne Visum nachweislich zuerst eingereist ist. „Das soll verhindern, dass AsylwerberInnen innerhalb der Union mehrere Anträge stellen müssen“, erklärt Karimi-Schmidt. Die Lasten stemmen folglich vor allem die Mittelmeerstaaten. Nach wie vor gibt es keinen verbindlichen Verteilungsmechanismus innerhalb der EU – und die Situation in Griechenland droht zu eskalieren. Eine Reform, die besonders stark betroffene Mitgliedsländer entlasten, das Asylsystem effizienter gestalten und Anträge rascher abwickeln soll, ist immerhin in Arbeit. Die Innenminister von Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien haben sich bereits auf einen gemeinsamen Ansatz zur Reform geeinigt, Karl Nehammer gab sich im April hingegen zurückhaltend. „Eine intensive Diskussion über die Asylreform sollte jedenfalls schnell stattfinden, um die humanitäre Notlage der Flüchtlinge zu ändern“, betont Karimi-Schmidt.
Im Zuge der Covid-Krise hat die EU-Kommission zumindest eine Leitlinie erlassen, dass Bleiberechtsverfahren weiterlaufen müssen. Dennoch leben in den Camps rund sechsmal soviel Menschen wie eigentlich vorgesehen.